Cristoph Hinse: «Simulation ist wie Theaterspiel – die Schnittstellen müssen offen sein und manchmal gilt es zu improvisieren …»

 Fabian Diehr im Gespräch mit SimpaTec-Chef Cristoph Hinse

«Wir machen aus Wissen Verständnis. Und aus Verständnis entsteht Veränderung ­– bei uns kommen Digitalisierung und Mensch zusammen», beschreibt Cristoph Hinse, Geschäftsführer von SimpaTec, seine Motivation. Sein Unternehmen ist auf die ganzheitliche Entwicklung und Optimierung von Prozessen, Bauteilen und Werkzeugen spezialisiert – von Spritzguss über Blas- und Thermoforming bis hin zur Additiven Fertigung. Hier vermitteln Hinse und sein Team Kunden vor allem die Kompetenz, Herausforderungen selbst zu meistern. «Software unterstützt, im Zentrum aber steht der Anwender», so Hinse. Schnittstellenoffenheit in allen Bereichen sei daher entscheidend. Für den Unternehmer bedeutet diese Haltung jedoch, sich auch selbst immer wieder auf unterschiedlichste Rahmenbedingungen einzulassen – die Freude daran hat er schon früh beim Theaterspiel entdeckt … 

Herr Hinse, vielleicht die wichtigste Frage vorab: Was ist Ihr Antrieb bei Ihrer Arbeit?
Die Krusten des Status quo aufzubrechen. Das gilt nicht nur in der Firma, sondern auch im Leben. Man kann sich lange damit beschäftigen, Dinge nicht zu tun. Ich möchte Menschen aber zum Tun animieren. Wenn sich die Welt verändern soll, müssen wir bereit sein anzupacken. Und wir müssen – ähnlich wie gute Simulationssoftware – schnittstellenoffen sein, also über den Tellerrand hinausschauen und dadurch die Kreativität des Netzwerks entdecken, vielleicht auch einfach mal improvisieren. 

Sie haben in der Vergangenheit auch Theater gespielt – gibt’s hier Ableitungen für Ihre Arbeit?
Klar, genau hier habe ich diese Flexibilität und Offenheit gelernt. Beim Theater lernt man zwar Text auswendig, aber manchmal verschwindet beim Auftritt eben doch eine Zeile aus dem Kopf und dann muss man improvisieren. Genauso ist es auch im Beruf, wenn es heißt «schau mal, das Werkzeug funktioniert nicht …». Wir haben es bei rund zwei Dritteln unserer Projekte ja immer mit neuen Start- und Randbedingungen zu tun. 

Treibt Ihnen das Improvisieren Schweiß auf die Stirn?
Das war beim Theaterspiel schon eine Herausforderung. Irgendwann merkt man aber, dass das Publikum das Textbuch ja gar nicht kennt und dass Improvisieren gerade im Kollektiv ganz gut funktioniert, wenn der eine den anderen auch etwas abfangen kann. 

Das macht dann also auch Freude …
Genau, denn Improvisieren heißt ja nicht, unvorbereitet zu sein – im Gegenteil. Es heißt, redefähig zu sein. Ich ertappe mich manchmal bei meinen Vorträgen, dass ich meinen Folien nur vage folge. Wenn ich ins Erzählen komme, berichte ich eben von den Dingen, die mir zum Thema in der jeweiligen Situation in den Sinn kommen. Beim Theater hat man ja jede Menge Licht im Gesicht, was verhindert, dass man die Menschen, die vor einem sitzen, sieht. Bei der Interaktion mit Menschen findet man sich jedoch immer ständig in neuen Situa­tionen wieder und muss sich auf diese dann auch einlassen. Man hat auch immer wieder unterschiedliche Klientelen gegenübersitzen. Ein bisschen schizophren zu sein, ist dann ganz gut … im Sinne von verschiedene Rollen einnehmen. Das hat aber nichts mit Sich-Verstellen zu tun. Wenn unterschied­liche Formen der Kommunikation nötig sind, packe ich von meiner Person halt auch wechselnde Schwerpunkte auf den Tisch … Geprägt hat mich der Umgang mit Menschen auch in der Zeit, als ich in Aachen hinter der Theke als Barkeeper gearbeitet habe.

Das ist das Allerdirekteste, man präsentiert vor kleinstem Publikum und ist ständig im Dialog …
Das stimmt, beim Cocktail-Mixen geht’s vor allem erst einmal um die Unterhaltung und dann kommt das Getränk.

Es gäbe ja noch weitere Analogien zwischen Simulation und Theater: In beiden Bereichen wird eine mögliche Wirklichkeit gezeigt, um den Betrachter ins Denken zu bringen …
Auch das passt: Wir haben mit plasticsYou ein Projekt, das genau da ansetzt, als Plattform für Aus- und Weiterbildung, die die Möglichkeit bietet, Wissen und Kompetenzen im Bereich Werkzeug- und Formenbau zu erweitern. Ziel ist der aktive Wissens­transfer: Es wird u. a. der Spritzguss durch die naturwissenschaftliche Brille betrachtet bis hin zu Erläuterungen der mechanischen Eigenschaften von Kunststoffen. Wir möchten hier nicht einfach nur Antworten geben, sondern den Anwendern Phänomene fundiert erklären, damit sie die Hintergründe verstehen und so eine eigene, dauerhafte Lösung in die Entwicklung einfließt.

Was ja momentan in der Branche an vielen Stellen gefordert ist. Digitalisierung ist ein Trendthema. Wo liegt in diesem Bereich das größte Potenzial?
An einem Produkt arbeiten Designer, Werkzeugkonstrukteure, Werkzeugmacher, Maschinenbediener. Früher waren die Grenzen zwischen diesen verschiedenen Gebieten recht starr – heute gehen sie immer fließender ineinander über. Und das ist auch richtig. Denn ein gutes Produkt kann nur entstehen, wenn alle Beteiligten an einem Tisch zusammenkommen und transparent miteinander kommunizieren. Alle müssen sich darüber im Klaren sein, dass sie dasselbe Ziel verfolgen, und dann gemeinsam daran arbeiten. Setzt man hier an, ist Simulation ein wichtiger «Zukunftsfaktor». Denn wir schaffen aus Vermutung Wissen und aus Wissen Verständnis. Beides baut aufeinander auf. Das heißt, eine Simulation macht es in vielen Fällen überhaupt erst möglich, verschiedene Prozessschritte im Detail nachzuvollziehen und die Schnittstellen zu begreifen. So kann man mit Simulation bereits seit mindestens 50 Jahren die Digitalisierung leben. Anfangs vereinzelt, heute unabdingbar, um ein vernetztes, nachhaltiges Arbeiten zu ermöglichen.
 

Stichwort Kollaboration über Prozesse hinweg: So arbeiten ja auch Theatergruppen …
… auch wir beim Blackout Theater. Da ging’s nicht nur darum, Texte zu lernen. Wir haben als Amateurtruppe von A bis Z alles selbst gemacht. Bühnenbau, Maske, Technik etc. Das alles aber sehr analog.

Trotzdem wurden ja an einer Stelle wie in einem Trichter alle Aspekte zusammengeführt … 
Klar, so funktioniert auch Digitalisierung. Tatsächlich können wir in der Berechnung die einzelnen Aspekte der Prozesskette einbinden und z. B. dieselbe Schnittstelle verwenden wie der Einrichter der jeweiligen Maschine. Moldex3D kann dann auch exakt die Optik der Steuerung der Eingabemaske abbilden. Solche Aspekte miteinzubeziehen ist relativ einfach. Haben wir genügend Input, können wir das Öffnen und Schließen einer Heißkanaldüse nachvollziehen oder Reaktionszeiten berechnen. Oder anders: Je besser die Regieanweisungen, desto planbarer das Theaterstück.

Allein der Faktor Zeit ist ja schon eine oft unberechenbare Komponente. Wie beim Theaterstück verändern sich Produktionsprozesse während ihrer Laufzeit. Wie genau deckt sich die Simulation hier mit der Realität? 
Eigentlich sehr genau – sofern man alles berücksichtigt. Dazu muss man jedoch ein fundiertes Wissen und eben entsprechendes Datenmaterial haben. Stellt man in der Simulation z. B. einen Volumenstrom von 10 ein, ist das exakt die Zahl, mit der gerechnet wird. In der Praxis starten aber vor allem hydraulische Maschinen nicht einfach mit diesem Wert, sondern brauchen etwas Zeit, um ihn zu erreichen. Um solche Aspekte in die Simulation miteinzubeziehen, muss der Entwicklungsprozess eines Bauteils schon sehr weit fortgeschritten sein. Es muss klar sein, welche Maschine und welche Systeme verwendet werden. Steht man hier jedoch noch am Anfang, kann die Simulation kein vollumfängliches Ergebnis abbilden. Der Einsatz der Simulation ist daher immer situationsbedingt. Der Fokus ist angepasst an den jeweiligen Entwicklungsfortschritt des Bauteils, des Werkzeugs, des Prozesses.

Kann sich das Potenzial einer Simulation also erst entfalten, wenn man bereits möglichst viele Daten gesammelt hat?
Im Gegenteil, sie lässt sich hervorragend im Entwicklungsprozess nutzen: Man beginnt mit einem Bauteil und einem Anspritzpunkt und baut alles andere darum sukzessive auf. Ich kenne viele Produkte – und Theaterinszenierungen –, die genau so entstanden sind. Wir wollen ja fürs Tun motivieren – getreu unserem Motto «Break your limits!» 

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